Reportage: Aufgeheiztes Klima bei AfD und den Gegenprotesten
Aachen. Am Ende geht die Nationalhymne im ohrenbetäubenden Pfeifkonzert der rund 1.500 Antifaschist*innen unter. Manche werden die Art und Weise, wie die Hymne gestört wird, verurteilen. Aber so wie die rund 250 AfD-Anhänger*innen das „Deutschlandlied“ intonieren, überdeckt die Störung deren eher disharmonischen Gesang. Ein Video- und Fotojournalist wird die von einem AfD-Mann eher schräg intonierte Nationalhymne später auf X (ehemals Twitter) sogar ironisch kommentieren: „Einfach nur Schändung von Hoheitssymbolen...“.
In Aachen haben am Samstag hunderte Menschen bei brütender Hitze mit verschiedenen Protestaktionen gegen eine Kundgebung der AfD demonstriert. Am Vormittag hatte im Krönungssaal des historischen Rathauses eine wegen der AfD-Kundgebung vorgezogene Einbürgerungsfeier für Migrant*innen stattgefunden, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Im Anschluss an den Festakt fand auf dem Katschhof zwischen Dom und Rathaus eine „Lange Tafel der Vielfalt“ statt, an der mehrere hundert Menschen teilnahmen. Gegen Mittag startete im Univiertel ein Demonstrationszug von Antifaschist*innen. Angemeldet waren 200 Teilnehmer*innen, zunächst liefen dort einige hundert Menschen los. Als die Demonstration am Elisenbrunnen vorbeizog, waren es bereits über 1.000. Als sie auf dem Marktplatz ankamen und sich dort mit weiteren Gegner*innen der AfD vereinten, wuchs ihre Zahl auf rund 1.500 an.
Gelöste Stimmung an der „Langen Tafel der Vielfalt“
Eigentlich ist es zu heiß für ein Picknick in der prallen Sonne auf dem Katschhof. Die Stadt hat die Gäste der Einbürgerungsfeier eingeladen. Initiativen und Parteien haben Informationsstände aufgebaut. Diese Aktion richtet sich formal nicht direkt gegen die der AfD. Dennoch soll ein deutlich sichtbares Zeichen für Toleranz und Vielfalt gesetzt werden. Die Stimmung ist gut. Die Band „Sin Fronteras“ begeistert mit einer Mischung aus Reggae, Ska, Rock und Latino-Rhythmen. Einige tanzen, andere schlemmen an den Tischen, wieder andere diskutieren an den Infoständen. Oberbürgermeisterin Sybille Keupen, die stellvertretende Städteregionsrätin Elisabeth Paul und weitere Lokalpolitiker*innen sind dabei. Manche der Eingebürgerten schauen allerdings nur kurz oder gar nicht vorbei. Zu sehr brennt die Sonne, das Thermometer nähert sich der 30-Grad-Marke.
Der ebenfalls als AfD-Redner angekündigte Martin Sichert aus Bayern hatte zuvor im Internet verbreitet, er wolle die Feier besuchen. „Ich komme gern bei der Einbürgerungsfeier vorbei und lade alle (Neu-)Bürger persönlich zur AfD-Kundgebung am Nachmittag ein“, teilte der Bundestagsabgeordnete via Telegram mit. In die Tat umsetzen wird der Bayer seine Ankündigung nicht. Zwar ist er bereits gut drei Stunden vor Beginn der AfD-Kundgebung in der Innenstadt unterwegs. Doch während auf dem Katschhof gefeiert und gepicknickt wird, tauscht sich Sichert im Elisengarten bei einer Aktion von Impfgegner*innen mit Parteianhänger*innen, Mitgliedern der „dieBasis“ und „Querdenker*innen“ aus. Zudem veröffentlicht er auf Facebook ein Livevideo und empfiehlt die Aktion.
Corona-Schutzimpfung als Apokalypse
Aus dem übrigen Rheinland angereiste Impfgegner*innen und „Querdenken 241“ halten parallel zur anstehenden AfD-Kundgebung einen „Infotag“ über „Impfschäden“ und „Impftote“ ab. Sie haben mehrere Stände aufgebaut. An diesen liegen Infomaterialien aus, auch aus dem verschwörungsideologischen Spektrum. Gezeigt wird eine fragwürdige „Wanderausstellung“, die zunächst als „Straße des Erwachens“ bezeichnet wurde. Der Elisengarten ist voller Leinen, auf denen eine riesige Loseblattsammlung über Impfschäden und „Impftote“ informieren will. Vieles davon ist nicht nachprüfbar. Von der Corona-Schutzimpfung wird ein apokalyptisches Bild gezeichnet. Zuweilen bleiben Passant*innen stehen. Aber nicht wenige wenden sich wieder ab. Der bei ähnlichen Temperaturen beliebte, zum Teil schattige innerstädtische Treffpunkt wirkt auffällig leer an diesem Samstagmittag.
Eine rechtsradikale, verschwörungsideologische Medienaktivistin aus Düren überträgt alles live via YouTube. Ein angereister Arzt hält eine Rede. Er schäme sich für „die Ärzteschaft“, die bei der Impfung mitgemacht habe. Die Medienaktivistin – sie wird später auch die AfD-Kundgebung streamen und Gegendemonstrant*innen provozieren – interviewt eine Esoterikerin mit Wurzeln in Osteuropa. Sie hat in den letzten Jahren im Chat von „Querdenken 241“ auch antisemitische und den Holocaust leugnende Inhalte verbreitet. Im Interview mit der Streamerin kritisiert sie nun eine angebliche Frühsexualisierung von Kleinkindern in Kindergärten. Auch der russische Präsident Wladimir Putin verurteile dies schließlich, ergänzt sie.
Einer der Hauptverantwortlichen der Aktion vergleicht in einem Redebeitrag die „Montagsspaziergänger“ gegen das Impfen mit einer „Minderheit, die ausgeschlossen wurde“. Diese „Behandlung [einer Minderheit] hatten wir in der Vergangenheit auch, die hat man auch ausgegrenzt, die hat man auch zusammengepfercht“, spielt er indirekt auf die Judenverfolgung in Nazideutschland an. Die Relativierung des Holocaust und der NS-Zeit oder eine Selbstviktimisierung mit den verfolgten und ermordeten Juden dient den regionalen Impfgegner*innen seit langem als Opfererzählung. Später werden russische Propaganda-Kanäle via Telegram fälschlicherweise verbreiten: „In Aachen wird gegen die zahlreichen Todesfälle von Kindern und Jugendlichen nach Coronavirus-Impfungen protestiert.“ Binnen 15 Stunden verzeichnet eines der Postings auf einem der bekanntesten deutschsprachigen und anti-westlichen Kanäle schon rund 50.000 Zugriffe.
Hasst ganz Aachen die AfD?
„Ganz Aachen hasst die AfD!“ Der Ruf schallt durch die Straßen. Die antifaschistische Demonstration ist im Univiertel gestartet, über den Innenring zum Elisenbrunnen gezogen und macht nun die Passant*innen darauf aufmerksam, dass hier gegen die AfD demonstriert wird. Nicht allen gefällt das Laute und Plakative. Zuvor hatte es Gerüchte gegeben. Wenn die Demonstration an den „Querdenker*innen“ und Impfgegner*innen vorbeiziehe, werde man diese stören. Auch die Polizei hat diese Befürchtung. Sie verstärkt leicht ihre Kräfte am Rande des Elisengartens. Die Antifaschist*innen sind inzwischen auf 1.200 angewachsen. Aber es bleibt friedlich. Als der Demonstrationszug den Markt erreicht, schließt er sich den bereits wartenden Menschen an.
Die Polizei wird später in ihrer Pressemitteilung feststellen, dass hier insgesamt rund 1.500 Menschen auf dem Marktplatz gegen die AfD demonstriert hätten. Es habe zwar „keine nennenswerten Störungen“ gegeben, wird die Bilanz lauten. Aber: „Leider wurden aus einer Menschengruppe heraus eine Sprühdose, zwei Eier und Obst in Richtung der AfD-Versammlung geworfen. Aufgrund der räumlichen Distanz wurde niemand getroffen – polizeiliche Ermittlungen wurden eingeleitet. Eine Person störte die Versammlungen lautstark und behindernd – dies zieht eine Anzeige nach sich – eine Druckluft-Hupe wurde sichergestellt.“ Falsch ist, dass niemand getroffen wurde. Denn ein Fotograf wurde von einem Ei an der Schulter getroffen.
Provokation mit Ansage
Zwar konnte die AfD in der Europastadt bisher weder größere Wahlerfolge feiern noch gut besuchte Kundgebungen abhalten. Offensichtlich will man aber an diesem 9. September im vermeintlich linken und durch Zuwanderung und Gaststudenten aus dem Ausland multikulturell geprägten Aachen provokativ präsent sein. Anmelder und Organisator der Kundgebung ist ein Mann aus Eschweiler. Der aufstrebende Multifunktionär hat es in den letzten Jahren zu einer ansehnlichen Liste von Parteiämtern und Funktionen, einem Ratssitz und Jobs gebracht. Als Angestellter ist er nun auch für die „zentralen Aufgaben“ in der Düsseldorfer Landesgeschäftsstelle der Partei zuständig.
Aus Ostdeutschland sind prominente und radikale Redner angereist: Die Spitzenkandidaten für die Europawahl 2024, Maximilian Krah (Sachsen) und René Aust (Thüringen). Auch Markus Buchheit (MdEP), Martin Vincentz (MdL NRW und Landesvorsitzender) und Sichert (MdB) sprechen an diesem Samstag in Aachen. Aust ruft seinen Parteifreund*innen zu, die er allesamt für Aachener zu halten scheint: „Ihr werdet diese Stadt regieren, ihr werdet die Region regieren und wir werden dieses Land regieren!“
Vor der AfD-Bühne stehen rund 250 Personen. Die Partei hatte zunächst 300 Teilnehmer*innen bei der Polizei angemeldet, diese Zahl aber später auf 750 erhöht. Auffallend ist: Viele der rund 250 Teilnehmer*innen sind aus dem westlichen Rheinland angereist, insbesondere aus der Städteregion, den Kreisen Düren und Heinsberg sowie dem Kölner Raum. Parteifreund*innen aus Aachen-Stadt sind nur einige dabei. Der völlig isolierte und abgewählte ehemalige Chef der Aachener AfD bleibt an diesem Samstag unsichtbar.
Neugründungs- und Kreisparteitag
Ein Sonntag davor: Idyllisch am Ortsrand von Herzogenrath-Kohlscheid liegen eine Gaststätte, ein Saal und ein kleiner Biergarten. Kinder spielen auf den sonst kaum befahrenen Nebenstraßen, eine Seniorin dreht mit ihren Hunden eine Runde. Die Sonne strahlt. Ein Pärchen fotografiert am benachbarten „Kriegerdenkmal“. Mitglieder der AfD stehen vor dem Eingang zum Saal. Sie sind gut gelaunt – es sind die aus der Städteregion und sie fühlen sich siegessicher. Dann verlassen sie die Idylle.
Glaubt man Parteikreisen, haben der Bezirksverband Köln und der bisherige Kreisverband Städteregion die Reißleine gezogen. Der Kreisverband Aachen-Stadt, marginalisiert und durch Macht- und Flügelkämpfe mit anderen Parteivertreter*innen aufgerieben, wird nun mit dem Kreisverband Städteregion verschmolzen. Im Vorfeld hatte es geheißen, das werde ein hartes Stück Arbeit. Einige der bisher maßgeblich aktiven Aachener würden sich dagegen wehren. Geschlossenheit sei wichtig, viele Mitglieder aus der Städteregion sollten kommen und abstimmen.
An jenem Sonntag, dem 3. September 2023, findet der Neugründungs- und Kreisparteitag also statt. Dabei schluckt der große Verband aus der Städteregion den weitgehend inaktiven Stadtverband. Insgesamt soll der Verband nun etwas mehr als 200 Mitglieder haben. Formal untersteht der Stadtverband Aachen ab diesem Sonntag, wie die Ortsverbände Eschweiler und Stolberg, als Kleinverband dem neu gewählten Kreisvorstand. Jener ist in weiten Teilen identisch mit dem bisherigen auf dem Gebiet der Städteregion. Lediglich eine Aachenerin gehört ihm an – nur als Beisitzerin. Zu gegebener Zeit soll noch ein neuer Ortsvorstand gewählt werden.
Faktisch hat der Stadtverband Aachen nun deutlich weniger Rechte als in früheren Jahren. Unter anderem darf zwar ein „Kassenführer“ die Gelder und ein Unterkonto verwalten – aber über allem wacht nach der neuen Satzung sorgsam der Kreisschatzmeister. Man darf gespannt sein, wie die aktionistischen Funktionäre und Mitglieder aus dem Aachener Umland künftig handeln werden. Bei den Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und gegen das Impfen nahmen sie regelmäßig an den Demonstrationen in Aachen teil.
Großräumige Absperrungen und massives Polizeiaufgebot
Der Aachener Markt ist am 9. September tief gespalten. Die Polizei hat ihn mit unzähligen Absperrgittern aufgeteilt, Beamt*innen zweier Hundertschaften stehen dazwischen. Auf der einen Seite die AfD, die mit ihrer Parteiprominenz den oben beschriebenen „Neuanfang“ in Aachen sichtbar zelebriert. Auf der anderen Seite und an der Längsachse gegenüber dem Rathaus stehen die Gegendemonstrant*innen. Ein Redner dort wirft der AfD „die härtesten Züge einer faschistischen Partei“ vor, ein anderer sagt, die „Nähe von AfD und Faschismus ist unübersehbar“. Gewarnt wird vor dem Rassismus und antidemokratischen Auswüchsen unter den Parteianhänger*innen.
Mitten drin steht ein Mann mit einem selbstgemalten Plakat. Darauf zu lesen: „AfD – Adolfs falsche Demokrat*innen“. Die Parole „Nazis raus!“ wird skandiert. Auf einem Plakat einer „Oma gegen Rechts“ ist eine Bildcollage mit Björn Höcke zu sehen, der den Hitlergruß zeigt. Eine andere Frau hält ein Pappschild mit dem selbstgemalten Slogan „Antidemokratische faschistische Dumpfbacken“ hoch. Konträr dazu gibt es auf Seiten der AfD Aussagen, die absurd wirken.
Die Moderatorin der Kundgebung, die schon an der Organisation der rechten und verschwörungsideologischen „Friedensdemos“ in Düren beteiligt war, rückt etwa den Gegenprotest indirekt in die Nähe der Nationalsozialisten und des Faschismus. Den AfD-Gegner*innen ruft die Dürenerin zu: „[Ihr] Faschisten bitte weg, verzieht euch!“ Später sagt sie, die AfD sei gegen Faschismus. Den Antifaschist*innen gegenüber ruft sie abermals zu: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Nazis!“
Schon vor Jahren hat der Politikwissenschaftler Robert Feustel vor einer Umkehrung von Begriffen gegen ihren traditionellen Sinn durch das politisch rechte Spektrum gewarnt. (mik)